Hier ist ein Schaufelrad zum Abbau von Braunkohle zu sehen
Deutschlands Braunkohlevorräte müssen größtenteils im Boden bleiben, wenn die Klimaziele erreichbar bleiben sollen. (Foto: RWE Generation/​Flickr)

Klimaschutz zu betreiben ist wie das Steuern eines großen Dampfers: Wer zu lange in die falsche Richtung fährt, kann irgendwann nicht mehr umsteuern – und läuft auf. Genau das ist den früheren Bundesregierungen mit dem Klimaziel für 2020 bereits passiert. Das Ziel, die klimaschädlichen CO2-Emissionen bis 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken, wurde 2007 von der ersten Groko unter Angela Merkel formuliert. Schon damals war klar, dass Deutschland viel würde tun müssen, um es zu erreichen.

Doch Jahr um Jahr verstrich, ohne dass nennenswert etwas geschah – weder bei der Kohle noch bei der Gebäudesanierung, geschweige denn im Verkehr. Der Verkehr ist sogar als einziger Sektor immer noch genauso klimaschädlich wie 1990. Das liegt am SUV-Boom, am zunehmenden Güterverkehr und an den immer stärkeren Motoren. Einzig der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Atomausstieg kommen voran. Letzterer war 2007 schon Gesetz, an ihm liegt es also nicht, dass wir das Ziel verfehlen.

Jetzt, zwei Jahre vor dem Ziel, ist es offensichtlich: Deutschland schafft bis 2020 bestenfalls und mit großen Anstrengungen noch ein Treibhausgas-Minus von 35 Prozent. Auch dazu wird die Regierung etliche Kohlekraftwerke stilllegen müssen, denn sonst landen wir nur bei minus 30 Prozent – das wäre eine internationale Blamage, nicht zuletzt, weil 2020 die nächste große internationale Klimakonferenz nach dem Klimaabkommen von Paris ansteht – eine Konferenz, bei der die Staaten der Welt ihre ersten Bilanzen vorlegen müssen. Den dafür nötigen Einstieg in den Kohleausstieg zu organisieren ist daher eine der vordringlichsten Aufgaben der neuen Kohlekommission.

Bundeskanzlerin Merkel hatte bei den Sondierungen über eine Jamaika-Koalition mit FDP und Grünen vorgeschlagen, die Kohlekraftwerksleistung von derzeit rund 45.000 Megawatt um zusätzliche 7.000 Megawatt zu verringern. Das betrifft 15 sehr alte und ineffiziente Braunkohle-Kraftwerksblöcke. Darum muss es auch jetzt wieder gehen. Wenn man den Preis für die bisherigen gesetzlichen Stilllegungen der Braunkohlekraftwerke in den drei Braunkohlerevieren anlegt, so müsste der Staat für die alten Braunkohle-Kessel rund 4,2 Milliarden Euro zahlen.

2020 ist noch einfach, 2030 wird hart

Doch 2020 ist nur eine Zwischenstation auf dem Weg bis 2030. Bis dahin sollen die Treibhausgasemissionen um 55 Prozent gegenüber 1990 sinken. Dieses Ziel ist, anders als das 2020er-Ziel, rechtlich bindend.

Wie scharf die Kursänderung sein muss, um das 2030er-Ziel zu erreichen, sei an folgendem Zahlenspiel erläutert: In den vergangenen 28 Jahren hat Deutschland es im Mittel geschafft, den Ausstoß von Treibhausgasen um etwa einen Prozentpunkt jährlich zu senken. In der Dekade von 2020 bis 2030 geht es nun darum, von einem Minderungsniveau, das bestenfalls bei minus 35 Prozent im Jahr 2020 liegen wird, auf minus 55 Prozent im Jahr 2030 zukommen. Dazu müssen die Emissionen ab 2020 jährlich um mindestens zwei Prozentpunkte sinken, eher sogar mehr. Gefragt ist also mindestens eine Verdoppelung der bisherigen Anstrengungen!

Agora Energiewende

Zur Person

Patrick Graichen ist Direktor des Thinktanks Agora Energiewende. Der Volkswirt promovierte über kommunale Energiepolitik und war Referatsleiter im Bundesumweltministerium.

Das müssen CDU, SPD und CSU anpacken, um ihre im Koalitionsvertrag festgehaltene Vereinbarung – das Klimaziel für 2030 in jedem Fall zu erreichen – einzuhalten. Konkret: Die große Koalition muss heute den Kurs dafür bestimmen, dass wir in den kommenden zwölf Jahren unseren Kohle- und Ölverbrauch halbieren – und je zur Hälfte durch erneuerbare Energien und Energieeffizienz ersetzen.

Die Größe dieser Aufgabe hat historische Dimensionen und ist vergleichbar mit der Einführung des Sozialversicherungssystems in Deutschland oder auch der Wiedervereinigung. Das ins Bewusstsein der Regierung zu bringen ist eine der derzeit wichtigsten klimapolitischen Aufgaben.

Das Werkzeug für die Kohlekommission liegt bereit

Die Kohlekommission, die die Bundesregierung eingesetzt hat, wird jetzt Vorschläge machen, wie unser Land aus der Kohle aussteigen kann – der Koalitionsvertrag hat ihr unter anderem ins Auftragsbuch geschrieben, ein Enddatum für die Kohleverstromung zu empfehlen. Dabei versteht es sich von selbst, dass dieses Enddatum nicht den bisherigen Plänen der Kohlekonzerne entsprechen kann, nach denen die Braunkohleförderung bis 2045 weitergehen soll. Denn diese Pläne sind nicht vereinbar mit den Klimaschutzzielen der Bundesregierung für 2020, 2030 und 2040.

Am Ende der Kommissionsarbeit sollte deshalb eine Vereinbarung stehen, die im Gegenzug für einen Ausstieg aus der Kohleverstromung im Einklang mit den Erfordernissen des Klimaschutzes einen Strukturwandelplan für die betroffenen Regionen festlegt – abgeschlossen von der Bundesregierung, den Unternehmen, den Gewerkschaften, den Umweltverbänden und den Braunkohleländern.

Wie ein solcher Strukturwandelfahrplan aussehen kann, hat die Denkfabrik Agora Energiewende am Beispiel der Lausitz als der am stärksten betroffenen Region ausgearbeitet. Die Lausitz soll demnach von 2019 an jährlich 100 Millionen Euro aus dem Bundeshaushalt erhalten. Und zwar zusätzlich zu bestehenden Mitteln zur Strukturentwicklung. Mit jeweils 25 Millionen Euro im Jahr sollen regionale Wirtschaft, Wissenschaft, Infrastruktur und Zivilgesellschaft auf die Herausforderungen vorbereitet werden, die mit dem schrittweisen Abschied von der Braunkohle einhergehen.

CO2-Preis

Neben einer Schließung von Kohlekraftwerken ist es ebenfalls nötig, dass die verbliebenen Anlagen nicht mehr rund um die Uhr laufen – also nicht mehr als Grundlastkraftwerke fungieren. Andernfalls sind die Klimaziele nicht zu erreichen. Das richtige Instrument an dieser Stelle ist ein angemessener Preis für Treibhausgasemissionen – denn am zu niedrigen Preis krankt das europäische Emissionshandelssystem bisher.

Nötig wäre ein langfristiger CO2-Mindestpreis von etwa 30 bis 50 Euro pro erlaubter Tonne (zurzeit sind es rund 14 Euro). Wenn die Energieunternehmen dieses Geld für den Ausstoß von Treibhausgasen zahlen müssen, dann würden CO2-ärmere Gaskraftwerke gegenüber den klimaschädlichen Kohlekraftwerken vorrangig eingesetzt. Die zusätzlichen Einnahmen aus der Versteigerung der Zertifikate könnten dann für den Klimaschutz und die soziale Begleitung der Transformation genutzt werden.

Mit einem CO2-Mindestpreis wäre Deutschland kein Vorreiter: Großbritannien verlangt bereits etwa 20 Euro je Tonne. Die niederländische Regierung will 2020 einen Mindestpreis von 20 Euro einführen, der jedes Jahr um zwei Euro steigen soll. Und der französische Präsident Emmanuel Macron macht sich für einen europäischen CO2-Mindestpreis von 30 Euro stark. Unterstützung bekommt er aus Österreich. Jetzt ist es an Deutschland, in Europa nicht mehr hintenanzustehen, sondern gemeinsam mit anderen westeuropäischen und skandinavischen Ländern wieder zum Klimavorreiter zu werden.

Aus dem Lausitzfonds könnte beispielsweise in der Wirtschaftssäule ein "Ein-Gigawatt-für-ein-Gigawatt"-Programm aufgelegt werden, wonach für je 1.000 Megawatt abgeschalteter Braunkohlekraftwerksleistung 1.000 Megawatt Erneuerbare-Energien-Anlagen oder Stromspeicher installiert werden. Denn auch Speicher sind nötig, weil wir bei hohen Anteilen von Wind- und Solarstrom immer Anlagen brauchen werden, die zu Zeiten der "Dunkelflaute" einspringen können.

Im Bereich Wissenschaft hat Agora Energiewende die Gründung eines Fraunhofer-Instituts für die Dekarbonisierung der Industrie vorgeschlagen, da hier ein großes Feld für die künftige angewandte Forschung existiert. Die kommunale und regionale Infrastruktur könnte durch den Ausbau der Bahnstrecken Berlin–Cottbus und Görlitz–Dresden sowie ein Highspeed-Internet auf einen zeitgemäßen Stand gebracht werden.

Entschädigungsfreie Stilllegung gegen Übernahme von Ewigkeitskosten

Im Gegenzug könnten ab 2023 die ersten Braunkohlekraftwerke entschädigungsfrei stillgelegt werden. Das ist möglich, sofern die Kraftwerke abgeschrieben sind und es eine angemessene Übergangsfrist gibt. Weil viele der Anlagen schon alt sind – 40 Jahre und mehr – ist das häufig der Fall. Und fünf Jahre sind als Übergangsfrist lang genug, hat ein Gutachten der Kanzlei Becker Büttner Held für Agora Energiewende gezeigt.

Teil dieses Pakets könnte zusätzlich ein Vertrag zwischen Politik und den Braunkohlekonzernen RWE, Leag und Mibrag sein, wer für die sogenannten Ewigkeitskosten und die Renaturierung aufkommt. Denn es wird Jahrzehnte dauern, bis die riesigen Gruben gesichert und mit Wasser gefüllt sind – in jedem Fall also länger als die Braunkohleverstromung selbst. Das ist ähnlich wie bei der Entsorgung des Atommülls, auch wenn es dort um 40 Milliarden Euro geht und bei den Tagebauen eher um vier Milliarden, die die Renaturierung wohl kosten wird.