Nehmen wir Bauen und Wohnen. Wird über Wohnungsnot gesprochen, kennt die Politik nur eine Lösung: mehr Wohnungen bauen, am besten mehrere Hunderttausend jedes Jahr. Und auch mehr Eigenheime bauen, gern auf der grünen Wiese. Das soll der ultimative Traum in Deutschland sein, schreiben die Leute, die an Immobilien verdienen.

Das kostet immer mehr Fläche, Material und Energie. Zwar nahm in Deutschland seit Ende der 1990er Jahre der Energiebedarf, der je Quadratmeter zum Heizen benötigt wird, in privaten Haushalten deutlich ab, dennoch liegt der Raumwärmebedarf pro Kopf noch immer fast auf dem Niveau von 1990. Grund ist der Anstieg der pro Person genutzten Wohnfläche. 2020 war sie gut 35 Prozent größer als 1990.

 

Die Flächenzunahme ist zu hoch und die Effizienzgewinne sind zu klein, um den Pro-Kopf-Raumwärmebedarf dauerhaft zu senken. Das Plus bei der Effizienz reicht für eine nachhaltige, umwelt- und klimaverträgliche Entwicklung nicht aus. Das lässt sich nahezu überall feststellen. Wer eine lebenswerte Zukunft für alle haben will, und das auf einem begrenzten Planeten, kommt um Suffizienz nicht herum.

Die Sicht der Wohlhabenden bestimmt den Suffizienz-Diskurs

Das Raumwärme-Beispiel und die Wertung der Suffizienz stammen aus einer heute vom Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) vorgelegten Ausarbeitung mit dem Titel "Suffizienz als 'Strategie des Genug'".

Für SRU-Mitglied Wolfgang Lucht bedeutet Suffizienz den Anspruch, im Einklang mit den eigenen Werten gerechter und innerhalb der ökologischen Grenzen zu leben. Es sei unbestreitbar, dass wir Menschen ökologisch über unsere Verhältnisse lebten, sagt der Erdsystemforscher. Gleichzeitig aber haben viele Menschen keinen ausreichenden Zugang zu Energie und Ressourcen.

"Wie kann unsere Zivilisation also ökologischer und zugleich gerechter werden?", fragt Lucht zu Recht. Der SRU schreibt dazu gut 100 Seiten voll, stapelt aber schon auf der Titelseite tief: Es handle sich um eine "Einladung zur Diskussion", ist dort festgehalten.

Die Wissenschaftler kennen die gängigen Vorwürfe. Suffizienz werde in der politischen Kommunikation zum Teil mit individuellem Verzicht und mit Lebensstilfragen assoziiert, schreiben sie in Erwartung des Kommenden.

Dem Umweltrat ist auch ziemlich klar, warum Suffizienz so dargestellt wird: Besonders bei stark ausgeprägten Meinungsunterschieden spiegelten die politischen Entscheidungen "systematisch die politischen Präferenzen von Wohlhabenderen stärker wider als die von Personen mit niedrigem Einkommen", heißt es im Papier.

Deshalb gelinge es kaum, Maßnahmen zu verabschieden, die für eine gerechtere Verteilung von Vermögen sorgen, auch wenn dies sinnvoll wäre.

Anders gesagt: Diejenigen, die von der jetzigen insuffizienten Lage profitieren, sorgen auch dafür, dass es so bleibt.

Die Erde kann allen ein gutes Leben ermöglichen

Der Umweltrat nimmt dabei eine optimistische Grundhaltung ein. Es sei möglich, allen Menschen in materieller Hinsicht angemessene Lebensbedingungen zu verschaffen, ohne die ökologische Tragfähigkeit der Erde zu überschreiten, stellt der Rat fest.

Die reichsten zehn Prozent der Menschheit sind für die Hälfte aller direkten CO2-Emissionen privater Haushalte verantwortlich. (Bild: Oxfam/​SRU; Daten: Oxfam, SRU, Unep u.a.)

Davon ausgehend geht es dann auch gleich zur Sache. Das angemessene Leben – der Ethikrat sprach kürzlich von einem "gelingenden" – ist für den Umweltrat nur erreichbar, wenn jene Menschen, die einen sehr ressourcenintensiven und "nicht verallgemeinerbaren" Lebensstil führen, ihren Ressourcenverbrauch deutlich reduzieren.

Der Gedanke, dass ein Teil der Menschheit gemessen an den ökologischen Erfordernissen zu viele Ressourcen verbraucht, zieht sich wie ein roter Faden durch die hundert Seiten.

Folgerichtig stellt für den Umweltrat die Begrenzung des "Ressourcen-Überkonsums" eine Voraussetzung dar, um mehr Gerechtigkeit in einer begrenzten Welt zu erreichen, auch wenn eine Verringerung umweltschädigender Güter und Praktiken von breiten Teilen der Gesellschaft – insbesondere wohlhabenden und konsumorientierten Gruppen – zweifellos auch als Verzicht empfunden werde.

Bei der Feststellung bleibt der Umweltrat aber nicht stehen, sondern lässt sich, wie er schreibt, zu "weitergehenden Anregungen" verleiten – fast möchte man sagen: hinreißen.

Ärmere benötigen mehr materiellen Wohlstand

Eine weitergehende Anregung geht so: Bislang könne, wer über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, in beliebigem Maße Umweltressourcen verbrauchen. Suffizienz erfordere daher eine Diskussion darüber, "ob und wie weit für manche Bereiche allein die Zahlungsfähigkeit der limitierende Faktor für den möglichen Konsum an knappen Gütern sein sollte".

Anders gesagt: Damit die Reichen zum Weniger kommen, müsste außer Kraft gesetzt werden, dass mit genügend Geld alles gekauft werden kann.

Sofern das überhaupt als Problem erkannt wird, steht für den Umweltrat die Diskussion darüber noch am Anfang, wie das Geld-ermöglicht-alles-Prinzip begrenzt werden kann.

So schlägt das Gremium vor, in Form von Budgets Obergrenzen einzuführen, die eine noch zu tolerierende Menge schädlicher Verbräuche, Abfälle oder Emissionen angeben. Auf diese Weise gesellschaftlich vereinbarte Knappheiten könnten dann als eine Art kollektive Selbstbeschränkung verstanden werden, meint der Umweltrat.

Sein Blick richtet sich aber auch auf die andere Seite, den "Unterkonsum". Auch in Deutschland lebten viele Menschen in Armut oder mit armutsgefährdend niedrigen Einkommen, konstatiert das Papier. Für diese Menschen setze ein Zugewinn an Möglichkeiten und Lebensqualität in der Regel "mehr materiellen Wohlstand" voraus, betont der Umweltrat.

"Key Points" ermöglichen dauerhafte Veränderungen

Ärmeren mehr zu geben, muss dabei nicht allein mehr Geld bedeuten. Das kann auch ein Neun-Euro-Ticket, die kostenfreie Mitgliedschaft in einer Energiegemeinschaft oder ein grünes, lebenswertes Wohnumfeld sein.

Gut, ganz so steht es nicht im Papier. Der Umweltrat formuliert so: Auf suffiziente Praktiken ausgerichtete Infrastrukturen können gesellschaftliche Teilhabe und mehr Lebensqualität erschwinglicher und besser erreichbar machen.

Praktische Beispiele für "Suffizienz-Pionier:innen" hat der Umweltrat in den Kernbereichen Wohnen, Mobilität und Ernährung ausgemacht. Er nennt hier Genossenschaften mit Regelungen zu einer bedürfnisangepassten Verteilung des Wohnraums, Carsharing-Modelle sowie Initiativen nach den Prinzipien der solidarischen Landwirtschaft.

Als wichtige Ansatzpunkte dafür sieht der Umweltrat sogenannte Key Points. Das seien Maßnahmen, die die individuelle Situation oder die gesellschaftliche Praxis derart veränderten, dass die Umweltentlastung von Dauer ist.

Langfristig wirkende Key Points wären für die SRU-Fachleute zum Beispiel die durchschnittliche Verkleinerung von Wohnraum pro Kopf statt einer Verringerung der Heiztemperatur, die Flexibilisierung und Umnutzung von Bestandsgebäuden statt neuer Bauprojekte, die stärkere Etablierung fleischärmerer Ernährungsstile, die Umverteilung von Verkehrsinfrastruktur zugunsten des öffentlichen Verkehrs und des Rad- und Fußverkehrs sowie geeignete Rahmenbedingungen für nachhaltigere Investitionen und Geschäfte.

Nachhaltigkeitsforscher: Besser, anders, weniger

Für den Nachhaltigkeitsforscher Reinhard Loske war es höchste Zeit, dass der SRU sich systematisch mit Suffizienzpolitik beschäftigt und Vorschläge für eine "Strategie des Genug" unterbreitet.

"Die Suche nach dem rechten Maß, gutem menschlichen Miteinander und einem gelingenden Leben innerhalb natürlicher Grenzen ist eine Fundamentalfrage, die alle Kulturen, Philosophien und Religionen weltweit bewegt", betont Loske, der dem Rat nicht angehört.

Er kritisiert ebenfalls, dass Suffizienz von den wachstumszentrierten Gegenwartsökonomien, auch der deutschen, zunehmend verdrängt oder von interessierter Seite sogar als "Verzichtsideologie" tabuisiert wurde. Das sei falsch, erklärt das Vorstandsmitglied des Berliner Instituts für ökologische Wirtschafts­forschung und der Stockholmer Right Livelihood Foundation.

 

Loske sieht hier auch Schwächen im Diskussionspapier des Umweltrats. Dieses sei am Ende doch wieder eher ein Papier "von Überzeugten für Überzeugte", gibt er zu bedenken. Es gebe zu wenig Anknüpfungspunkte für Menschen, die nicht dem postmateriellen und ökologisch orientierten Sozialmilieu angehören, aber etwas mit traditionellen Werten wie Sparsamkeit, Selbstversorgung, Genügsamkeit, Lokalität, Reparaturfreude und Nachbarschaftshilfe anfangen können.

Loske bekräftigt aber die grundlegende Haltung des Rates. Angesichts planetarer Grenzen und sozialer Ungerechtigkeiten sei leicht zu erkennen, dass es auf individueller wie auf gesellschaftlicher Ebene so etwas wie "zu viel" und "zu wenig" gebe, sagt er. Das reine Hoffen auf grünes Wachstum und grüne Technologien werde nicht genügen, um die Umweltziele zu erreichen. Loskes Devise lautet kurz: "Besser, anders, weniger."