Beim Verkehrswendecamp in Wolfsburg Anfang Mai kamen nicht selten Jugendliche vorbei und fragten die Aktivist:innen, ob sie die sogenannten "Klimakleber" seien. Zum befürchteten Ankleben kam es aber nicht. Dazu waren die Aktivist:innen wahrscheinlich zu beschäftigt mit Workshops, Straßenfesten und Aktionen und damit, ihre Pläne für die Verkehrswende zu erarbeiten.

 

Seit letztem Sommer gibt es mit der Amsel 44 in Wolfsburg ein Projekthaus, das zum Dreh- und Angelpunkt für die Aktivist:innen und inzwischen auch für einige VW-Arbeiter:innen geworden ist.

Die Aktivist:innen zogen ein, um – wie sie selbst sagen – in die "Höhle des Löwen" zu gehen: Sie wollen die seit 1938 bestehende Autostadt Wolfsburg, in der VW normalerweise für Volkswagen steht, in eine "Verkehrswende-Stadt" umwandeln.

Damit legen sie sich mit dem zweitgrößten Autohersteller der Welt und Europas größtem Industrieunternehmen an. Knapp 400.000 Pkw rollten im vergangenen Jahr allein in Wolfsburg vom Band, über 8,7 Millionen waren es weltweit von VW-Bändern.

Diese unglaubliche Menge von Autos spiegelt sich auch in den CO2-Emissionen des Verkehrs in Deutschland wider. Der Sektor verfehlte 2022 zum wiederholten Mal die Klimaziele.

Im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) gibt es noch den einen oder die andere Wissenschaftler:in, die glauben, die Umstellung von Verbrenner- auf Elektroautos könne das Klimaproblem des Verkehrs lösen.

Da mag die Enttäuschung schon arg sein, dass die Produktion von E-Autos in der deutschen Autobranche wieder an Bedeutung verloren hat. So legte VW-Chef Oliver Blume kürzlich die Pläne seines Vorgängers Herbert Diess auf Eis, in Wolfsburg das Trinity-Werk zu bauen. Das hätte 250.000 Fahrzeuge jährlich produzieren sollen.

Und die Alternative? Etwa die Bahn?

In der Debatte über die vermeintlichen Verheißungen des E-Autos wird oft übersehen, dass es sich – Überraschung – immer noch um ein Auto handelt. Und dieses Auto verursacht Probleme, die im Jahr 2023 nur schwer wegzudiskutieren sind.

Da sind zum einen die Verkehrsunfälle. Derzeit kommen in Deutschland jeden Tag etwa acht Menschen auf den Straßen zu Tode. Die Zahl der täglich Verletzten liegt bei über 1.000.

Oder nehmen wir die Flächengerechtigkeit. In Berlin gibt es für jedes Kind im Schnitt 0,6 Quadratmeter Spielplatzfläche, weniger als gesetzlich vorgeschrieben. Hingegen benötigt ein Auto zum Parken und generell zum täglich 23-stündigen Herumstehen zwölf Quadratmeter.

Foto: privat

Clara S. Thompson

hat das Bündnis "Wald statt Asphalt" mit­gegründet und schreibt über Verkehrs­wende, Klima­gerechtigkeit und soziale Bewegungen. An der Universität Jena forscht die studierte Umwelt­soziologin zur Konversion der Auto­industrie am Beispiel von VW.

Doch als gäbe es kein Morgen, will VW immer noch weitere Millionen Autos auf den Markt bringen. Dabei gibt es allein in Deutschland inzwischen schon fast 49 Millionen zugelassene Pkw.

Die Situation erinnert an das Motto, das der BMW-Manager Eberhard von Kuenheim einmal ausgab: "Es mag zwar zu viele Automobile auf der Welt geben, aber noch zu wenige BMWs."

Die Zahlen schockieren wahrscheinlich auch gar nicht mehr. Die Reaktion ist oft ein Schulterzucken und die Frage: Was ist denn die Alternative? Die Deutsche Bahn etwa? Dann wird herzlich gelacht.

Tatsächlich steckt in dieser Reaktion viel Wahres. Ohne eine ernstzunehmende Alternative kann es niemals zu einer kollektiven Ablehnung des Autos kommen.

Vielleicht ist das der Hauptgrund, warum so viele am Auto festhalten: Bei der Alternative sieht es mau aus. Die Bahn – jahrelang vernachlässigt und unterfinanziert – hinkt tatsächlich der Zeit hinterher.

Kaum eine Spur von Innovation und Optimierung in Deutschlands öffentlichem Verkehr. Das Gleissystem wurde vernachlässigt, die Taktung von Bahnen und Bussen ist ausbaufähig, Verspätungen sind an der Tagesordnung.

Die Chance zur Transformation ist jetzt

Aber daraus zu folgern, dass das Auto die Zukunft sei – das Produkt, in das jahrzehntelang investiert und das von der Politik gepusht wurde –, ist nicht nur inspirationslos, sondern ein Denkfehler.

Hausdurchsuchung im Projekthaus

Am Donnerstag hat die Polizei in Wolfsburg das Projekthaus Amsel 44 durchsucht und Computer beschlagnahmt. Laut Lokalpresse ging es dabei um Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen einiger gesprühter Graffiti in Wolfsburg und einem gefakten Flyer mit dem VW-Logo. Ein Verkehrswende-Aktivist sprach von "grundrechtsverletzenden und unverhältnismäßigen Maßnahmen wegen Lappalien". Es gehe nicht um Strafverfolgung, sondern um gezielte Ausforschung und Einschüchterung im Interesse von VW. (mb)

Nur weil der Ist-Zustand schlecht ist, heißt das nicht, dass mit entsprechenden Finanzen und vor allem einer überfälligen Priorisierung von Bus und Bahn nicht ein neues, barrierefreies Mobilitätssystem auf dem Land und ein sauberer und flexibler ÖPNV in der Stadt Realität werden können. Bei Bedarf beinhaltet das auch Autos. Es fehlt nicht an Möglichkeiten, sondern am politischen Willen.

Die autozentrierte Denkweise übersieht zudem komplett, dass der Wandel der Autoindustrie so oder so vor der Tür steht. Das haben weitsichtige Gewerkschafter:innen schon vor mehr als 40 Jahren vorhergesagt und das zeigt sich nun in den aktuellen "Rissen" im deutschen Autosystem:

Mit sinkendem Absatz drohen Arbeitsplatzverluste in der Branche. Die Klimabilanz übt immer mehr Druck auf die Produktionsweisen aus. Und Branchenexpert:innen sagen, die internationale Konkurrenz sei bei der E-Auto-Produktion nicht mehr einzuholen.

Spätestens seit dem Dieselskandal von 2015 gibt es zudem Vertrauensprobleme zwischen Belegschaft und Chefetage, die die Zukunft von VW gefährden.

Doch genau das ermöglicht jetzt die Chance für eine wirkliche Transformation, und zwar by design und nicht by disaster.

 

Die Wolfsburger Aktivist:innen fordern eine Konversion der bestehenden Produktionsanlagen. Statt Autos sollen im VW-Werk Busse und Bahnen vom Band rollen. Über die genaue Lösung lässt sich sicherlich streiten, aber ein Neustart der Autoindustrie scheint unausweichlich.

Für Wolfsburg schließen die Aktivist:innen die Option E-Auto für die Zukunft gar nicht aus. Aber sie weisen zu Recht darauf hin, dass das E-Auto derzeit die große Hoffnung der internationalen Automobilbranche ist.

Soll der ÖPNV in der Zukunft irgendeine Rolle spielen, ist es nun die Aufgabe zivilgesellschaftlicher Akteur:innen, den Ausbau der Bahn zu fordern. Denn das wird die Autoindustrie sicher nicht machen.