Ideensammlung beim Auftakt zum Projekt Graefekiez in Berlin-Kreuzberg. (Foto: Anke Borcherding)

Worum geht es im Projekt Graefekiez im Berliner Stadtteil Kreuzberg? Seit den 1980er Jahren ist der Graefekiez ein verkehrsberuhigter Bereich, in dem alle Verkehrsteilnehmer:innen gleichgestellt sind. Es muss Schrittgeschwindigkeit gefahren werden. Autos dürfen überall halten.

Das war damals eine gute Idee für mehr Verkehrsberuhigung, funktioniert heute aber nicht mehr, da die Zahl der Autos und Lieferfahrzeuge stark zugenommen hat. Auch sieht die Straße nicht verkehrsberuhigt aus: Es gibt Fahrbahn, Gehwege und Kfz-Stellplätze. Dass der Kiez verkehrsberuhigt ist, wird von vielen nicht erkannt.

Das hat Folgen für die Verkehrssicherheit: Es wird zu schnell gefahren, es gibt Konflikte mit dem Lieferverkehr, die Straßen sind schlecht einsehbar. Besonders für die Schüler:innen der vier Schulen im Kiez ist das gefährlich – aber auch für alle anderen, die zu Fuß oder mit dem Rad unterwegs sind.

Mit dem Projekt Graefekiez soll dieses Problem behoben werden. Ziel ist es, einen verkehrsberuhigten Bereich zu schaffen, der diesen Namen auch verdient. Mit den Maßnahmen setzt das Straßen- und Grünflächenamt Friedrichshain-Kreuzberg einen Beschluss der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) vom Juni 2022 um.

Die Maßnahmen werden begleitet von Forschung und einem moderierten Beteiligungsprozess durch das Wissenschaftszentrum Berlin, die Organisationen Paper Planes, Berlin 21 und Naturfreunde und weitere Partner:innen.

Was ist dran an der Kritik?

Es gibt eine Reihe von Kritikpunkten, mit denen sich die Akteur:innen des Projekts auseinanderzusetzen haben. Auf die wichtigsten soll hier eingegangen werden.

Erster Vorwurf: Die Beteiligung ist nur Show.

Auf dem Hohenstaufenplatz in Kreuzberg unterhalten sich Annika Gerold und Petra Schwarz an einem Stehtisch.
Verkehrs- und Umweltstadträtin Annika Gerold (Grüne) im Gespräch mit WZB-Moderatorin Petra Schwarz (links) bei der Auftaktveranstaltung zum Graefekiez-Projekt am 22. April. (Foto: Anke Borcherding)

Diese Kritik trifft nicht zu, die Beteiligung ist keine Show. Alle Angebote sind offen, es gibt öffentliche Informationen auf der Straße und im Internet, es gibt Möglichkeiten der aktiven Beteiligung in Gruppen der digitalen Kommunikation mit den Projektverantwortlichen und mit den gewählten Vertreter:innen in der BVV. Und natürlich über die Presse.

Diese Angebote müssen aber auch genutzt werden. Das erfordert Eigeninitiative. Und Beteiligung heißt nicht, dass die eigene Meinung stante pede umgesetzt wird. Beteiligung ist ein Prozess. Bis Ende des Jahres soll herausgefunden werden, welche Schlüsse aus den Ergebnissen der Beteiligung für die mögliche zweite Phase des Projekts 2024 gezogen werden können.

Zweiter Vorwurf: Der Bezirk macht sowieso, was er will.

Da ist zu entgegnen: Der Bezirk macht, was er muss. Er hat die Aufgabe, den BVV-Beschluss umzusetzen.

Dazu hat der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg verschiedene Instrumente. Er schafft die Voraussetzungen für die Beteiligung. Er plant die Einrichtung von Lieferzonen oder Standorte für Sharing-Dienste, die nur der Bezirk anordnen kann. Dabei sind auch Regeln einzuhalten, die gesetzlich vorgegeben sind.

Aber auch dazu berät sich der Bezirk mit den Betroffenen und im Falle der Sharing-Angebote mit den Verkehrsbetrieben, der BVG. Verwaltung hat einen Handlungsauftrag für Maßnahmen, die angeordnet werden müssen und die Verpflichtung, Recht und Gesetz einzuhalten.

Anke Borcherding

ist wissen­schaft­liche Mit­arbeiterin am Wissen­schafts­zentrum Berlin für Sozial­forschung (WZB). Die studierte Politik­wissen­schaft­lerin beschäftigt sich theoretisch und vor allem praktisch mit Mobilitäts­projekten.

Dritter Vorwurf: Es droht eine Invasion der Partypeople und Touristen.

Da, wo es schön und ruhig ist, wo es keinen oder wenig Autoverkehr gibt, trifft man sich in Berlin gerne zum Bier, gern auch vom Späti, und feiert in Massen, ist laut und hinterlässt Müll.

Für die Partypeople ist das nett, für die Anwohnenden eher nicht. Der Lausitzer Platz und die Admiralbrücke sind in Kreuzberg bekannte Beispiele.

Diese Befürchtung ist für das Graefekiez-Projekt nicht zu leugnen. Es wird jetzt darum gehen, gemeinsam zu überlegen, wie dieser Ärger vermieden werden kann. Dazu hat niemand bisher ein Rezept. Das wird zu entwickeln sein – siehe Beteiligung.

Vierter Vorwurf: Das Parkhaus am Hermannplatz, in dem die Anwohner:innen ihre Fahrzeuge in der Zeit des Projekts abstellen können, ist keine Alternative zum wohnortnahen Parkplatz.

Das stimmt zum Teil. Das Parkhaus ist wahrhaftig nicht schön, nicht schnell zu Fuß zu erreichen und über Nacht geschlossen. Durch die Ankündigung des Projekts hat der Betreiber allerdings bereits rund 100 feste Stellplätze dauerhaft zusätzlich vermietet.

 

Das Parkhaus deckt also einen Bedarf ab – aber eben nicht für alle Autofahrenden. Es werden deshalb weitere Alternativen im Kiez gesucht, um dauerhafte Parkplätze anmieten zu können.

Die Diskussion geht weiter. Es werden sich im Projekt mit Sicherheit weitere Probleme zeigen. Das gehört dazu, wenn eine Veränderung stattfindet, das Gewohnte überdacht werden muss, Routinen sich ändern. Weil es von den meisten Menschen im Kiez gewollt wird.

Auch das gehört zur Geschichte des Projekts Graefekiez. Und am Ende wissen wir alle jetzt noch nicht, wie diese vielleicht einzigartige Geschichte ausgeht.

Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem

Wie kommen wir in Zukunft von A nach B? Fest steht: Es geht nur radikal anders als bisher. Aber wie? Die Gruppe "Digitale Mobilität – das Antiblockiersystem" entwickelt Ideen für die Mobilität von morgen. Hier schreiben Wissenschaftler:innen und Expert:innen über Wege in ein neues Verkehrssystem, das flüssig, bequem, gerecht und klimafreundlich ist – jenseits von Allgemeinplätzen und Floskeln. Das Dossier erscheint in Zusammenarbeit mit dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB).